Verhandlung - Romanauszüge

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Mit leicht rudernden Armbewegungen versuchte Scheuerlein gegen den Strom im Wagen in der Nähe der Türe zu bleiben, man brauchte Kraft und Ausdauer, der Druck der Menge war stark, wie immer, das hatte er gelernt. Im Rücken spürte er etwas Hartes, einen Korb vielleicht, so genau wollte er das gar nicht wissen. Auch versuchte er zu vermeiden, daß irgendwer seinen Mantel ihm ans Gesicht drückte, er haßte diese Nähe überhaupt. Seine Mutter hätte bestimmt gesagt, er, Georg, solle sich nicht so anstellen, besser schlecht gefahren als - der Schaffner rief den erlösenden Plärrer aus. Scheuerlein bewegte sich, konnte im Vorbeifahren gerade noch die Ruine des Kulturvereinsgebäudes erkennen. Igendwer im Wagen hatte Knoblauch gegessen, schmeckte er.Nur noch die rückwärtigen Gebäude des Präsidiums am Jakobsplatz standen einigermaßen intakt, von den Notdächern abgesehen, man konnte an Sankt Elisabeth vorbei über die niedrigen abgebrochenen Ruinen oder den mehrstöckigen Rest des westlichen Flügels der Deutschhaus - Kaserne bis zu ihnen durchsehen. Er hatte sein Bureau da hinten, mußte es teilen mit einem amerikanischen Unteroffizier, der da saß, den ganzen Tag, und gut genährt war der, der Aufpasser in Oliv. Dessen Waffe baumelte immer in ihrer weißen Tasche an dem weißen Gürtel unter dem Leibriemen der MP. Groß war sie, diese Tasche, die Pistole darin hatte Scheuerlein noch nie gesehen, die interessierte ihn auch nicht. Solche Dinge hatten ihn nie bewegt, darum machte es ihm auch nichts aus, daß die Deutsche Polizei, auch die Nürnberger, ihren Dienst ohne zu versehen hatte. Hatten sich doch alle aufgeregt darüber, als die ihre Dienstwaffen, die noch übrig waren, bei den Amerikanern abgeben mußten - schon am 21 April. Und an der Wand stehen mußten sie dabei auch - als hätten sie etwas verbrochen? Nicht viele durften ihren Dienst einige Wochen später wieder antreten. Ihn hatten sie mit dem Jeep geholt, nichts gesagt. Aber erleichtert war Scheuerlein doch gewesen, als er an seiner alten Arbeitsstelle hatte aussteigen dürfen, ohne ein Wort.

Durch das alte Hauptportal konnte man noch gehen, ein Tor war allerdings nicht da, eher nur ein schwarzes Loch zwischen den Gebirgen aus geborstenen Ziegelsteinen. Der amerikanische Posten vor dem Gewölbe grüßte nicht. Igendwo weit hinter ihm läutete eine Straßenbahn ab, zog rumpelnd ihren Anhänger Richtung Fürth und Plärrer. Die Fenster waren schwarz vor Menschen, stellte Scheuerlein sich vor, gerade war er noch einer dieser Punkte gewesen.

Muffig roch es in dem Rest der ehemaligen Halle, nur aus dem Bretterverschlag im Inneren, der die Pförtnerloge sein sollte, drang Licht heraus, dort saß auch ein Soldat der Besatzungspolizei, beobachtete ihn aufmerksam, Scheuerlein fixierte ihn seinerseits im Vorübergehen, geradeaus, zum Hinterausgang, damals, jetzt eher Schneise zu den rückwärtigen eigentlichen Dienstgebäuden. Hier vorne saßen nur die anderen, zugig hatten die es. Scheuerlein grinste. "Hey?" hörte er hinter sich. Er reagierte nicht, wußte, daß der Pförtnerersatz zu faul war, um aufzustehen. Mit einem Knirschen unter den Füßen stieg er die Treppe zum Hinterausgang hinunter. Die Türe zum Hof ließ sich leicht öffnen, quietschte nicht einmal; das lag bestimmt daran, daß das Gebäude über ihr fast völlig fehlte, dachte Scheuerlein.


DR. KAUFFMANN: Und in dieser Zeit sind Hunderttausende von Menschen dort in den Tod geschickt worden. Ist das richtig?
HÖSS: Jawohl.
DR. KAUFFMANN: Ist es richtig, daß Sie selbst keine genauen Aufzeichnungen über die Zahl dieser Opfer haben, weil Ihnen diese Aufzeichnungen verboten waren?
HÖSS: Das ist so richtig.
DR. KAUFFMANN: Ist es weiter richtig, daß ausschließlich ein Mann namens Eichmann hierüber Aufzeichnungen hatte; der Mann, der mit der Organisation und der Sammlung der Menschen beauftragt worden war?
HÖSS: Jawohl.
DR. KAUFFMANN: Ist es weiter richtig, daß Ihnen Eichmann erklärte, insgesamt seien in Auschwitz über zwei Millionen jüdische Menschen vernichtet worden?
HÖSS: Jawohl.
DR. KAUFFMANN: Männer, Frauen und Kinder?
HÖSS: Ja.

Die Luft über dem Innenhof der Deutschhauskaserne roch nach Frühling, unter diesem weiß gespannten Himmel überquerte Scheuerlein das Pflaster zu den hinteren Gebäuden. Als ob sie es wissen würden, standen genau an der Stelle, an der bis zuletzt die schwarzen Wagen der Geheimen geparkt waren, zwei dunkelolive Jeeps. Scheuerlein betrachtete im Vorübergehen die großen weißen Sterne, die auf den Wagen angebracht waren. "MP" konnte er zudem lesen. Mit dem rechten Fuß kickte er nach einem kinderfaustgroßen Rest eines Ziegelsteines. Brocken lösten sich im Flug schon vor dem Aufschlag von ihm, dann hinterließ er eine rote Spur auf dem grauen Pflaster des Innenhofes. Nichts war außer dem Kollern des Steines zu hören. Er fühlte sich alleine, aber dabei nicht unwohl.

Eine Pfütze spiegelte den hellen Himmel fast farblos zu ihm hin, als er die Klinke zum Treppenhaus seines Dienstgebäudes in die Hand nahm. Mit der Schulter mußte er das Türblatt aufschieben, seine Kraft ließ es am Boden mit einem häßlichen Geräusch entlangschrammen, gleichzeitig strömte an der Türe vorbei und ihm entgegen staubige abgestandene Luft, entfernt konnte er Schimmel darin ausmachen, vermutlich aus dem Keller. Oder auch aus dem Dachstuhl, denn der lag offen über dem Treppenhaus, man konnte die dichtende Teerpappe von innen sehen, wenn das Licht einmal wieder gehen sollte.

Mit langsamen Schritten begann er den Aufstieg in den dritten Stock. Unter seinen Sohlen knirschte der Sand, an manchen Stellen bestimmt der gleiche Staub noch wie vor eineinhalb Jahren. Geputzt hatte, glaubte er zu wissen, seither keiner. Von außen leuchtete die Sonne hell in das Treppenhaus, die Flure, die aber von den Absätzen zu den Bureauzimmern führten, öffneten sich wie schwarze Löcher. Er wollte eigentlich in keines hinein, drehte aber doch auf dem Absatz in den mit einer römischen III gekennzeichneten Gang. Er mußte die Türen mitzählen, gewöhnt hatte er sich an den Bau noch kaum, wollte er auch nicht. An der vierten Türe links hielt er an, ließ noch schnell seine rechte Hand über die Schultern seines schäbigen Mantels kehren, er wollte sauber vor seinem Aufpasser erscheinen.


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